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Wendet sich das Blatt weltweit zugunsten der Demokratie?

Anti coup protest in Tunis (10 October 2021). Image:

Trotz einiger demokratischer Errungenschaften in jüngster Zeit ist es noch zu früh, um zu verkünden, dass die weltweite demokratische Rezession vorbei ist. Die Überwindung der tiefen Wurzeln der globalen Probleme der Demokratie wird nachhaltige Anstrengungen der Vereinigten Staaten und vieler anderer Demokratien erfordern, um eine Vielzahl von anhaltenden Herausforderungen zu bewältigen.

In seiner Rede vom 29. März während des zweiten von den USA veranstalteten Gipfels für Demokratie erklärte US-Präsident Joe Biden, dass die weltweite Demokratie das Blatt gegen den demokratischen Rückschritt wendet und „die Demokratien der Welt stärker werden, nicht schwächer“, während zugleich „die Autokratien der Welt schwächer werden, nicht stärker“. In einem kürzlich erschienenen Artikel von Foreign Affairs über die weltweite Bekämpfung der Autokratie schrieb die Leiterin der US-Behörde für internationale Entwicklung, Samantha Power, dass das Jahr 2022 „ein Höchststand für den Autoritarismus“ gewesen sein könnte und die „Autokratien jetzt auf dem Rückzug sind“. Diese optimistische Darstellung stützt sich auf die Argumente verschiedener politischer Beobachterinnen und Beobachter, die in globalen politischen Rückblicken Ende 2022 auf die sich häufenden guten Nachrichten für die Demokratie hinwiesen und spekulierten, dass ein neuer positiver Wendepunkt für die globale Demokratie bevorstehen könnte.

Diese Jahresrückblicke konzentrierten sich auf fünf Fälle: China, Russland, Iran, Brasilien und die Vereinigten Staaten. Der Rückzug der chinesischen Regierung von ihrer Null-COVID-Politik angesichts des zunehmenden öffentlichen Zorns und Widerstands war ein großer Rückschlag für Chinas autoritäres Modell. Russlands enorme Fehlkalkulationen bei der militärischen Intervention gegen die Ukraine erschütterten die Vorstellung von der Machtkompetenz des russischen Präsidenten Wladimir Putin, schwächten das russische Militär erheblich und führten zu harten Wirtschaftssanktionen gegen das Land. Massive, anhaltende Proteste im Iran brachten das Regime mehr in Bedrängnis als je zuvor in seiner Geschichte. Die Wahlniederlage von Präsident Jair Bolsonaro in Brasilien hat einen gefährlichen Abstieg der Demokratie in diesem Land gestoppt. Und bei den Zwischenwahlen in den USA wurde eine Reihe von rechtsextremen Kandidatinnen und Kandidaten besiegt, insbesondere solche, die Positionen in staatlichen Ämtern anstrebten, von denen aus sie die Integrität der Präsidentschaftswahlen 2024 untergraben könnten.

US-Präsident Joe Biden bei einer virtuellen Sitzung des zweiten Summit for Democracy. Bild: Instagram/POTUS (public domain)

Die Idee einer globalen Trendwende zugunsten der Demokratie ist verlockend. Nach vielen Jahren des Niedergangs der Demokratie, die von Analystinnen und Analysten als tiefgreifende „demokratische Rezession“ bezeichnet wird, warten alle, denen die Demokratie am Herzen liegt, sehnsüchtig auf gute Nachrichten. Aber sind sie auch zutreffend? Sicherlich gibt es hier und da in der Welt einige gute Nachrichten für die Demokratie. Der weltweite Rückzug der Demokratie ist weder ein unaufhaltsamer noch ein unerschütterlicher Zustand. Dennoch sind die Wurzeln der demokratischen Rezession tief und ihre Umkehrung erfordert grundlegende Fortschritte bei mehreren gewaltigen Herausforderungen zur gleichen Zeit. Heute sind diese Fortschritte an vielen Fronten erst im Entstehen begriffen.

Gemischte Nachrichten für die Demokratie

Ein zweiter Blick auf die fünf großen positiven Fälle, die oben beschrieben wurden, trübt das optimistische Bild etwas. Die Abkehr Chinas von seiner Null-Covid-Politik war ein gewaltiger Einschnitt, doch angesichts des wieder einsetzenden Wirtschaftswachstums und der Tatsache, dass der chinesische Präsident Xi Jinping seine energische, repressive Politik fortsetzt, scheint dies keine große Erschütterung des chinesischen politischen Systems bedeutet zu haben. Der Krieg in der Ukraine war in mancher Hinsicht katastrophal für Russland, aber Putin erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit und sein politischer Einfluss scheint sicher zu sein, zumindest im Moment. Die Proteste im Iran sind abgeklungen, und das Regime ist zwar erschüttert, aber intakt. In Brasilien ist ein gewisses Maß an demokratischer Normalität eingekehrt, aber der Angriff auf den Nationalkongress am 8. Januar 2023 war ein Zeichen für die anhaltende Präsenz antidemokratischer Kräfte. In den Vereinigten Staaten hält die außerordentlich harte Kluft zwischen Republikanern und Demokraten – einschließlich der Wahrnehmung beider Seiten, dass die jeweils andere Seite eine fundamentale Bedrohung für die amerikanische Demokratie darstellt – an, und der sich anbahnende Präsidentschaftswahlkampf wird die Spaltung mit Sicherheit weiter verschärfen.

Ein zweiter Blick trübt das optimistische Bild

Natürlich gibt es auch andere positive Nachrichten für die Demokratie in der Welt. In Honduras, Slowenien und Sambia kam es in den letzten zwei Jahren zu demokratischen Öffnungen durch Wahlen. Demokratisch rückständige oder stagnierende Parteien oder Führungskräfte wurden durch solche ersetzt, die demokratische Reformen versprechen. In Moldawien haben politische Reformerinnen und Reformer die Macht übernommen und kämpfen tapfer für einen pro-demokratischen Wandel. In Tansania hat Präsidentin Samia Suluhu Hassan, die 2021 die Nachfolge eines autokratischen Vorgängers antrat, die autoritäre Entwicklung ihres Landes umgekehrt. In Thailand war der Sieg der reformorientierten Oppositionsparteien über die vom Militär unterstützten Parteien bei den Wahlen im Mai 2023 ein ermutigendes Zeichen, auch wenn ungewiss bleibt, wie viel demokratischen Wandel das Militär wirklich zulassen wird. Aber insgesamt sind die jüngsten demokratischen Öffnungen – die die Regierung Biden als „demokratische Lichtblicke“ bezeichnet und die sie sinnvollerweise verstärkt unterstützt – meist in kleinen Ländern entstanden und bleiben fragil.

Unterdessen geht der demokratische Rückschritt vielerorts weiter, auch in einigen regional oder global einflussreichen Ländern. In Lateinamerika ist der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador bestrebt, wichtige demokratische Leitplanken, wie das Nationale Wahlinstitut des Landes, zu schwächen, während in El Salvador Präsident Nayib Bukele diesen Weg bereits eingeschlagen hat. Peru wird von ständigen politischen Konflikten und Instabilität heimgesucht, und Guatemalas politische und sicherheitspolitische Elite untergräbt die schwachen demokratischen Institutionen des Landes kontinuierlich. In Südasien bedroht der indische Premierminister Narendra Modi mit seinem unnachgiebigen Streben nach einer illiberalen hinduistischen Mehrheitspolitik die Demokratie seines Landes, während die demokratische Politik in vielen anderen Ländern der Region, wie Bangladesch, Pakistan und Sri Lanka, entweder erheblich geschwächt ist oder sich in einem Zustand des Aufruhrs befindet. Im Nahen Osten ist die seit langem bestehende Demokratie Israels unter einen beispiellosen internen Druck seitens einer Regierung geraten, die die unabhängige Justiz aushebeln will, während Tunesiens einst vielversprechender demokratischer Übergang durch einen Präsidenten entgleist ist, der entschlossen ist, absolute Macht auszuüben. In Afrika haben sich Militärputsche oder andere verfassungswidrige Machtwechsel in den letzten zwei Jahren vervielfacht. Betroffen sind Burkina Faso, Tschad, Guinea, Mali und der Sudan. Die jüngste Wiederwahl von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei ist eine ernüchternde Erinnerung daran, wie schwierig es ist, einen etablierten Machthaber zu besiegen, selbst wenn die jüngste wirtschaftliche Bilanz des Machthabers offenkundig schrecklich ist.

Die tiefen Wurzeln der demokratischen Rezession

Das internationale Gesamtbild ist zwar keine ungebrochene demokratische Tristesse, aber es ist bestenfalls sehr gemischt. Es hat einen gewissen Inspirationswert und politischen Nutzen, wenn die US-Regierung und andere pro-demokratische Akteure Zuversicht in Bezug auf das allgemeine globale Anziehen der Demokratie verbreiten. Und es ist durchaus möglich, dass sich die weltweite demokratische Rezession im Laufe der Zeit deutlich abschwächt; seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert hat die Demokratie weltweit zu- und abgenommen. Dennoch ist es wichtig, unrealistisch positive und letztlich nicht überzeugende Botschaften zu vermeiden.

Pro-Demokratie-Protest in Hongkong am 19. Januar 2020. Foto: Etam Liam/Flickr, CC BY-ND 2.0

Um zu beurteilen, ob die demokratische Rezession tatsächlich abklingt, müssen wir über simple Länderbewertungen, ob es dort mit der Demokratie aufwärts oder abwärts geht, hinausgehen und uns stattdessen darauf konzentrieren, was die Rezession überhaupt ausgelöst hat. Der weltweite Rückzug der Demokratie in den letzten anderthalb Jahrzehnten war das unglückliche Zusammentreffen von drei weitreichenden und tief verwurzelten negativen weltpolitischen Entwicklungen.

Es ist notwendig, über simple Länderbewertungen hinauszugehen

Der Kern der demokratischen Rezession ist die Tatsache, dass viele der Länder im globalen Süden und in der ehemals kommunistischen Welt, die in den 1980er und 1990er Jahren einen demokratischen Übergang versuchten – der Kern der „dritten Welle“ der Demokratie – bei dem Versuch, diese Veränderungen zu konsolidieren, auf ernsthafte Probleme gestoßen sind. In einigen Ländern wie Kambodscha, Ungarn und Nicaragua haben autokratische politische Akteure übergroße Mengen an politischer Macht angehäuft, relativ schwach verwurzelte demokratische Normen und Institutionen mit Dampfwalzen ausgehebelt und einen beträchtlichen Teil der von den ersten Ergebnissen der Demokratie desillusionierten Bevölkerung davon überzeugt, sich dem illiberalen Kurs anzuschließen. Andere Länder der dritten Welle, wie Kirgisistan und Peru, leiden unter chronischem politischem Wechsel zwischen schwach institutionalisierten politischen Parteien und haben kaum Fortschritte bei der Bewältigung zentraler Herausforderungen der Regierungsführung gemacht. Wieder andere, darunter Haiti und der Libanon, haben entweder den Zusammenbruch des Staates oder eine fast vollständige Lähmung der Staatsführung erlebt. Es war fast unvermeidlich, dass viele der demokratischen Experimente der dritten Welle auf eine harte Probe gestellt werden würden, da sie in einem Kontext tiefgreifender institutioneller Schwächen, harter sozioökonomischer Realitäten und geringer Erfahrung mit demokratischen Praktiken und Normen gestartet wurden. Aber das Zurückbleiben hinter den prodemokratischen Bestrebungen war breiter und tiefer als die meisten Beobachterinnen und Beobachter – und, was sehr wichtig ist, die meisten Bürgerinnen und Bürger dieser Länder – erwartet hatten, als die Demokratie weltweit an Schwung zu gewinnen schien.

Zu diesem weit verbreiteten demokratischen Unbehagen in den neueren Demokratien hat ein zweiter Trend beigetragen: eine unerwartet schwere Welle demokratischer Erschütterungen, die die etablierten wohlhabenden Demokratien getroffen hat, vor allem die Vereinigten Staaten, aber auch viele Teile Europas. Diese Welle ist gekennzeichnet durch eine weit verbreitete Entfremdung der Bürgerinnen und Bürger von den herkömmlichen demokratischen Institutionen, einschließlich der seit langem bestehenden Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien, sowie durch den Aufstieg illiberaler rechter Parteien und Politiker. Diese beunruhigenden politischen Strömungen wurden von mächtigen Faktoren angetrieben. Zu diesen Triebkräften gehören die langfristige wirtschaftliche Stagnation und die zunehmende Unsicherheit in der Mittelschicht, illiberale Gegenreaktionen auf den fortschrittlichen soziokulturellen Wandel in Bereichen wie Einwanderung, ethnische und rassische Vielfalt, Frauenrechte und LGBTQ-Rechte sowie die störenden Auswirkungen des technologischen Wandels auf die Integrität öffentlicher Informationsräume und den grundlegenden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Obwohl die Demokratie in den wohlhabenden Demokratien Nordamerikas, Europas, Ostasiens und Ozeaniens überlebt hat, haben diese Erschütterungen ihre Stellung als demokratische Modelle für andere Länder beschädigt und die Attraktivität der Demokratie auf der ganzen Welt geschwächt.

Diese schwierige Situation für die globale Demokratie in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts wurde durch die langsame, aber letztlich tiefgreifende autoritäre Verhärtung zweier entscheidender Länder – China und Russland – noch verschärft, die die Fähigkeit und die Absicht haben, die Macht der USA herauszufordern und antidemokratische Praktiken und Ideen weit über ihre Grenzen hinaus zu verbreiten. Auch andere autokratische Staaten wie der Iran, Saudi-Arabien und Venezuela haben in den letzten fünfzehn Jahren zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedliche Weise ihre Bemühungen ausgeweitet, den politischen Kurs einiger ihrer Nachbarn zu beeinflussen, in der Regel mit antidemokratischer Absicht und Wirkung.

Indikatoren für einen grundlegenden Wandel

Da die aktuellen Herausforderungen für die Demokratie in diesen drei Hauptentwicklungen wurzeln, werden Beobachterinnen und Beobachter daher wissen, dass die globale demokratische Rezession zurückgeht, wenn sich diese Entwicklungen in folgender Weise verändern.

  • Eine beträchtliche Anzahl von Entwicklungsländern und postkommunistischen Ländern, in denen der Versuch eines demokratischen Übergangs fehlgeschlagen ist, schafft es, neue, produktivere Wege zu finden. Dies erfordert eine Kombination aus einer erschreckend langen und anspruchsvollen Liste von Errungenschaften und Reformen. Dazu gehören der Sturz gewählter Autokraten, die Erneuerung prodemokratischer politischer Parteien, die Erweiterung der Wählerschaft unabhängiger ziviler Gruppen, die Stärkung wichtiger Leitplanken wie Gerichte und Wahlbehörden, die Verbesserung der Bereitstellung grundlegender sozioökonomischer Dienstleistungen, die Stärkung unabhängiger Medien und die Förderung prodemokratischer Innovationen auf lokaler und provinzieller Ebene.
  • Wohlhabende etablierte Demokratien drängen illiberale Parteien und Politikerinnen und Politiker in die Defensive und gehen wieder sinnvoll auf unzufriedene Bürgerinnen und Bürger zu, indem sie wirtschaftliche Hoffnung und Ergebnisse anstelle von Stagnation und Unsicherheit bieten, einen produktiven Konsens über spaltende soziale Fragen erzielen und Lösungen dafür finden, dass neue Technologien den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und nicht stören.
  • Die großen autokratischen Mächte stoßen bei ihren Bemühungen, die Demokratie jenseits ihrer Grenzen zu untergraben, auf harte Grenzen und erleben echte Konkurrenz bei ihren Versuchen, als alternative Modelle zur liberalen Demokratie zu dienen.

Die verschiedenen guten Nachrichten der letzten Zeit über die Demokratie betreffen alle drei dieser Kategorien. Der Sturz eines populistischen Machthabers in Brasilien ist ein Beispiel für die erste, die Wahlniederlage einiger antidemokratischer Politiker in den Vereinigten Staaten ein Beispiel für die zweite und die starke Koalition von Ländern, die die Ukraine gegen die russische Aggression unterstützen, ein Beispiel für die dritte. Es sind jedoch viel umfassendere, nachhaltige Maßnahmen und Fortschritte in allen drei Bereichen erforderlich, bevor man mit Zuversicht sagen kann, dass sich das Blatt zugunsten der Demokratie weltweit gewendet hat. Unter Bidens Führung unternehmen die Vereinigten Staaten wertvolle Anstrengungen, um ein solches Ergebnis durch multilaterale und bilaterale Diplomatie, wirtschaftliche Zuckerbrot und Peitsche und verstärkte Demokratiehilfe zu erreichen. Aber an all diesen Fronten muss noch viel mehr getan werden, nicht nur von den Vereinigten Staaten, sondern von den Demokratien auf der ganzen Welt, um den vielerorts noch vorhandenen erheblichen demokratischen Rückschritt und das Unbehagen umzukehren. Eine Überbewertung der bestenfalls beginnenden Fortschritte birgt die Gefahr, dass unterschätzt wird, was notwendig sein wird, um diese Fortschritte in den kommenden Jahren auszuweiten und zu erhalten.

Dieser Artikel wurde ursprünglich von Carnegie Endowment for International Peace hier veröffentlicht. Das Copyright verbleibt beim ursprünglichen Herausgeber/Autor:in. Auf diesem Blog mit freundlicher Genehmigung wiederveröffentlicht. Ins Deutsche übersetzt von Democracy Without Borders.

Thomas Carothers
Thomas Carothers, co-director of the Carnegie Endowment for International Peace’s Democracy, Conflict, and Governance Program, is a leading expert on comparative democratization and international support for democracy
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