Michael Ambühl, Nora Meier und Daniel Thürer präsentieren in ihrem im Juni 2023 von der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA) publizierten Artikel Reformvorschläge für den UNO Sicherheitsrat. Durch das Veto-Recht ist dieser häufig blockiert, aktuell beispielsweise im Kontext des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Demokratie ohne Grenzen Schweiz (DWB-CH) begrüsst die Diskussion zu Reformen im UNO-System. Anders als die Verfassenden sind wir aber der Ansicht, dass es grundlegendere Reformen braucht, um die gegenwärtigen globalen Herausforderungen effektiv angehen zu können. Gerne nehmen wir die Vorschläge des Artikels auf und ordnen sie aus unserer Perspektive ein.
Die Schweizer Denkfabrik „Foraus“ kommt gemäss der ehemaligen Präsidentin Anna Stünzi (vgl. SRF-Interview vom 16.06.20023) zum Schluss, dass die Schweiz aussenpolitisch oft passiv und introvertiert bleibt, i.e. sich tendenziell (zu) wenig mit den Geschehnissen vor der eigenen Haustür auseinandersetzt. Derselbe Eindruck lässt sich auch aus diesem Artikel gewinnen. Die Schweiz denkt diesem zufolge inzwischen zwar über eine Neudefinition ihrer jahrhundertealten Neutralität nach, eine Diskussion über eine dringend notwendige Reform des Sicherheitsrats bleibe jedoch trotz des russischen Angriffs auf die Ukraine auffällig abwesend. Der aktuelle Einsitz der Schweiz als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat bietet unseres Erachtens eine Möglichkeit, vermehrt über solche Reformvorschläge nachzudenken.
Der Vorschlag zur Reform des Sicherheitsrates
Gemäss den Autorinnen und Autoren haben es Reformvorschläge zum UNO-Sicherheitsrat schwer. Ihnen wird entweder mit Skepsis begegnet oder durch Minireformen der Status-Quo legitimiert. Ihr Vorschlag soll hingegen innerhalb der realpolitischen Gegebenheiten eine tatsächliche Veränderung bewirken können. Dabei würden als Zugeständnis an die Umsetzbarkeit die Grundstrukturen des Sicherheitsrats aufrechterhalten. Dies, obwohl die Verfassenden es selbst als paradox monieren, dass die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes unter Ländern nach Art. 2 (1) der UN-Charta (weiterhin) in Kauf genommen werden muss, um eine Reform zu erreichen.
Eine positive Veränderung herbeiführen sollen drei Reformpunkte. Erstens ist dies eine Erhöhung der Mitgliederanzahl von derzeit 15 auf 25 Staaten. Die ständigen Mitgliedschaften – im präsentierten Vorschlag zehn anstatt der bisherigen fünf – sollen zweitens anstatt aufgrund historischer Rahmenbedingungen anhand der objektiven Kriterien Bevölkerungszahl, BIP und freiwillige Beiträge an das UN Budget vergeben werden. Ebenfalls gälte die Voraussetzung, dass jeder UN-Region mindestens ein Sitz zustehen soll. Gewisse historische Privilegien der durch dieses Raster fallenden bisherigen ständigen Mitglieder – namentlich Frankreich – würden allerdings gewahrt. Drittens wäre für Beschlüsse nur noch ein einfaches Mehr erforderlich, ein Veto gälte nur bei mindestens drei Gegenstimmen unter den zehn permanenten Mitgliedern.
Der Vorschlag schafft mehrere potenzielle Gewinner unter einflussreichen Ländern. Daher bestünde laut der Autorenschaft die Möglichkeit, dass diese den erforderlichen Druck aufbauen könnten, um eine solche Reform zu erwirken. Dem Widerstand der Vetomächte, an dem die Änderung der UN-Charta bislang scheiterte, soll durch Wahrung von Privilegien entgegengewirkt werden. Es klingt nach einem Aufruf für den Mut zum Versuch, ungeachtet der finalen Erfolgschancen, wenn die Verfassenden feststellen:
„Die P5 könnten also nicht verhindern, dass die Vorschläge auf den Tisch gebracht werden. Erst die Ratifikation könnten sie verweigern und damit ein Reformvorhaben sabotieren.“
Haltung von DWB Schweiz
DWB-CH begrüsst Vorschläge zur Reform des UNO-Systems. Der konkrete Vorschlag überzeugt insbesondere durch die bessere geografische Mitgliederverteilung und somit die erhöhte Repräsentativität des mächtigsten UNO-Gremiums. Der Vorschlag vermag es jedoch nicht, ein in unseren Augen wesentliches Manko des derzeitigen UNO-Systems zu beseitigen. Partikularinteressen der beteiligten Nationen – bzw. Regierungen – werden nach wie vor dominieren. Eine wirkliche Demokratisierung des Systems und die Einführung einer globalen Perspektive der Menschheit wird auch durch die geografische Öffnung nicht erreicht. Ebenfalls problematisch scheint uns die Koppelung der Kriterien an wirtschaftliche Faktoren. Fundamentale Grundsatzprobleme der UNO-Architektur bleiben somit bestehen und werden nicht angegangen.
Wir teilen den Eindruck der Verfassenden, dass Änderungsvorschläge zum UNO-Sicherheitsrat mit viel Skepsis aufgenommen werden. Tatsächlich gilt dies auch für Reformen der UNO insgesamt. So befürchtet der Bundesrat 2020 im Bericht zum Postulat von Daniel Jositsch zur Demokratisierung der Vereinigten Nationen eine Schlechterstellung von kleinen Ländern wie der Schweiz bei Neuverhandlungen der UNO-Charta. Während wir einverstanden sind, dass die bisherigen Errungenschaften nicht gefährdet werden dürfen, halten wir die zum Ausdruck kommende passive Grundhaltung gegenüber Reformen für höchst problematisch. Angst ist meistens ein schlechter Ratgeber auf dem Weg zu einer positiven Veränderung. Sie ignoriert die vielschichtigen Möglichkeiten und Abzweigungen, um ein Ziel zu erreichen und führt zu einer starren Akzeptanz eines spätestens mit Beginn des Ukraine-Kriegs praktisch übereinstimmend als ungenügend erkannten Status Quo. Auch in diesem Punkt stimmen wir den Verfassenden vollumfänglich zu – es ist darauf zu achten, nicht durch Passivität den Status Quo zu legitimieren.
Sowohl die Schweiz in ihrer Bundesverfassung (Art. 54 Abs. 2) als auch die UNO Generalversammlung im Rahmen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 21) haben sich der Förderung bzw. Sicherstellung der Demokratie verpflichtet. Die Vision einer demokratischeren Welt, in der jede Stimme zählt, überzeugt in Umfragen viele Menschen weltweit (z.B. Charney, 2023; DeVeaux & Golovanova, 2023). Sie stehen existierenden, aber auch hypothetischen supranationalen Parlamenten und starken internationalen Organisationen positiv gegenüber (siehe z.B. Charney, 2023; gfs.bern, 2021).
Demokratie ohne Grenzen setzt sich daher für die Etablierung einer parlamentarischen Versammlung bei der UNO (United Nations Parliamentary Assembly; UNPA) ein. Ein solches Gremium würde zu einer tatsächlichen Demokratisierung der UNO beitragen und helfen, eine wirklich globale Perspektive auf globale Herausforderungen zu haben. Als Nebenorgan der Generalversammlung gemäss Art. 22 der UNO-Charta kann deren Schaffung auch nicht von den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates blockiert werden. Nachdem eine UNPA zu Beginn vornehmlich Beratungs-, Aufsichts- und Mitwirkungsbefugnisse hat, können die Kompetenzen nach und nach erweitert werden. Mit diesem pragmatischen und graduellen Ansatz, basierend auf den Erfahrungen bestehender internationaler parlamentarischen Institutionen, können die Bürger:innen direkt ermächtigt werden, Abgeordnete auf globaler Ebene zu wählen und somit Einfluss auf die globale Politik nehmen (siehe auch Brauer & Bummel, 2020).
Ergänzend dazu kann mit einer Weltbürgerinitiative (United Nations World Citizens Initiative; UNWCI) den Bürgerinnen und Bürgern der Welt ein direkt-demokratisches Instrument in die Hand gegeben werden, um Anliegen auf die globale Agenda zu setzen. Somit hat jede Person die Möglichkeit, sich an der Gestaltung des gemeinsamen Planeten zu beteiligen.
Die Vorschläge von DWB sind dabei effektiv und realistisch umzusetzen. Sie ermöglichen die Einnahme einer globalen Perspektive und die Loslösung von nationalem Denken bei globalen Problemen. So können globale Herausforderungen effektiv angegangen werden. Eine UNPA hat dabei auch die demokratische Legitimierung im Interesse der globalen Bevölkerung zu handeln und die Kompetenzen können laufend erweitert werden. Zudem wäre eine Schaffung mit verhältnismässig kleinen Hürden verbunden, da eine einfache Mehrheit in der Generalversammlung als Anstoss ausreicht und kein Staat ein Vetorecht besitzt.
Daher bleiben wir der Überzeugung, dass die Stärkung der Bürgerinnen und Bürger bei der Weiterentwicklung der Vereinten Nationen entscheidend ist. Wir sehen dies als nachhaltiger an, als Sitze zwischen ambitionierten Landesregierungen mit starken Eigeninteressen herumreichen. Gleichzeitig befürworten und unterstützen wir die Überlegung und den Willen der Autorinnen und Autoren, den Status Quo zu ändern und eine Diskussion um dringend notwendige Reformen anzustossen.
Quellen
Brauer, M., & Bummel, A. (2020). Eine parlamentarische Versammlung der Vereinten Nationen. https://cdn.democracywithoutborders.org/files/DWB_UNPA_Policy_Review.pdf
Charney, C. (2023). Global Governance Survey 2023 (The Stimson Center, Ed.). https://www.stimson.org/wp-content/uploads/2023/06/6.6.23_APPROVED-GGS_WEB_READY-1.pdf
Der Bundesrat. (2020). Demokratisierung der Vereinten Nationen – Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates 18.4111 Jositsch vom 27. November 2018. https://www.parlament.ch/centers/eparl/curia/2018/20184111/Bericht%20BR%20D.pdf
DeVeaux, F., & Golovanova, E. (2023). Democracy Perception Index 2023 (Latana, Ed.). https://www.allianceofdemocracies.org/initiatives/the-copenhagen-democracy-summit/dpi-2023/
gfs.bern. (2021). Schlussbericht – Wahrnehmung demokratischer Grundlagen: Bürger:innenteilhabe als Motor für Systemzufriedenheit. https://www.gfsbern.ch/wp-content/uploads/2021/11/212039_demokratie-eu_schlussbericht_def-1.pdf