Nach dem Veto Russlands in einer Abstimmung des UN-Sicherheitsrates am 25. Februar 2022 über eine Resolution, die Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilen sollte, ist die Legitimität und Rechtfertigung des Vetorechts der fünf ständigen Mitglieder des Rates, kurz P5, wieder auf der Tagesordnung.
Laut Column Lynch, einem Autor der Zeitschrift Foreign Policy, wächst der «Unmut über das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder der UNO, insbesondere Russlands, aber auch der Vereinigten Staaten und Chinas, die ihr Vetorecht häufig dazu genutzt haben, Initiativen mit breiter internationaler Unterstützung zu blockieren.»
Generalversammlung diskutiert das Vetorecht
In einer Rede bei einer dringenden Sondersitzung der UN-Generalversammlung zum Einmarsch Russlands in die Ukraine, die vom 28. Februar bis 2. März 2022 nach dem Prinzip «Uniting for Peace» einberufen wurde, sagte der kanadische Außenminister Bob Rae, dass Russlands Gebrauch des Vetos in diesem Fall «und bei vielen anderen Gelegenheiten» «illegitim» gewesen sei.
Die «Uniting for Peace»-Formel wurde ursprünglich 1950 verabschiedet und besagt, dass die Generalversammlung eine subsidiäre Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit hat, wenn der Sicherheitsrat aufgrund des Vetos einer der P5 nicht tätig wird.
Liechtensteins UN-Vertreter Christian Wenaweser wies darauf hin, dass das Veto Russlands «im offensichtlichen Widerspruch» zu Artikel 27(3) der UN-Charta stehe, der es Streitparteien untersagt, über sie betreffende Resolutionen nach Kapitel VI abzustimmen. Rechtsexperten weisen jedoch darauf hin, dass diese Bestimmung «in der Theorie obligatorisch, in der Praxis jedoch freiwillig» gewesen sei. Außerdem gilt sie nicht für Resolutionen unter Kapitel VII, die verbindliche Durchsetzungsmaßnahmen vorsehen.
Wachsender Unmut über Vetomacht
Bei einem informellen Treffen der Generalversammlung zur Reform des Sicherheitsrats am 7. März 2022 sagte Japans UN-Botschafter Ishikane Kimihiro, dass der Sicherheitsrat aufgrund des Vetos «manchmal» seiner Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nicht gerecht geworden sei. «Wir haben gesehen, dass diese Versäumnisse die Legitimität dieses wichtigen Gremiums mehrfach ernsthaft untergraben haben», fügte er hinzu und fasste damit die Ansicht der G4-Gruppe zusammen, die aus Indien, Brasilien, Deutschland und Japan besteht, die jeweils einen ständigen Sitz im Rat anstreben.
Im Namen der Gruppe «Uniting for Consensus», zu der Italien, Argentinien, Pakistan, Südkorea, die Türkei und andere gehören, erklärte der italienische UN-Vertreter Maurizio Massari, dass das Vetorecht die Entscheidungsfähigkeit des Sicherheitsrats lähme. «Es besteht kein Zweifel: Das Veto steht im Widerspruch zu den Prinzipien der Demokratie, der Effizienz und der souveränen Gleichheit der Staaten. Es wurde in einem bestimmten historischen Kontext konzipiert und hat heute keine plausible Rechtfertigung mehr», sagte er. Die Gruppe spricht sich für die Abschaffung des Vetorechts aus und lehnt die Schaffung neuer ständiger Sitze ab.
Einberufung der Generalversammlung nach jedem Veto?
Eine von der Sondersitzung der Generalversammlung am 2. März 2022 angenommene Resolution fordert von der Russischen Föderation die sofortige Beendigung der Invasion in der Ukraine und den bedingungslosen Rückzug aller ihrer militärischen Kräfte, womit das Veto Russlands im Sicherheitsrat effektiv überstimmt wurde. Das Dokument wurde mit einer Zweidrittelmehrheit von 141 Mitgliedsstaaten angenommen, bei 5 Gegenstimmen und 35 Enthaltungen.
Ein Vorschlag, der vorsieht, dass die Generalversammlung routinemäßig eine stärkere Rolle bei der Eindämmung und Überprüfung des Vetos spielt, erhält nun erneut Aufmerksamkeit. Wie Foreign Policy berichtet, steht Liechtenstein an der Spitze einer Gruppe kleiner und mittelgroßer Länder – darunter Costa Rica, Estland, Irland, Mexiko, Neuseeland, Katar und Schweden – die sich für eine Resolution der Generalversammlung einsetzen, nach der die Versammlung automatisch einberufen werden muss, wenn eines der P5-Mitglieder im Sicherheitsrat ein Veto einlegt. Die Begründung für diesen Vorschlag ist, dass die Schwelle für die Einlegung eines Vetos angehoben wird, wenn dieses automatisch eine Sondersitzung auslöst.
Unterstützung für diese Idee gibt es unter anderem aus der Zivilgesellschaft.
«Der Vorschlag Liechtensteins sollte auf breite Zustimmung stoßen und umgesetzt werden. Er erhöht die politischen Kosten des Veto-Gebrauchs und bietet der Generalversammlung einen nützlichen Weg, in die Bresche zu springen», sagte Ben Donaldson im Namen der United Nations Association-UK.
Der Vorschlag Liechtensteins sollte auf breite Zustimmung stoßen und umgesetzt werden
«Wir unterstützen die Mitgliedstaaten, die versuchen, die Bestimmungen der UN-Charta zur Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in vollem Umfang zu nutzen», kommentierte Daniel Perell, Ko-Vorsitzender der Coalition for the UN We Need und UN-Vertreter der Baha’i International Community.
Laut der ehemaligen ecuadorianischen Außenministerin María Fernanda Espinosa, die Präsidentin der 73. UN-Generalversammlung war und nun als weitere Ko-Vorsitzende der Koalition fungiert, «sind Initiativen, die die Transparenz des UN-Sicherheitsrats und seine Rechenschaftspflicht gegenüber der Generalversammlung erhöhen, zu begrüßen. Diese Initiative ist längst überfällig, und man kann nur hoffen, dass sie jetzt genügend Unterstützung unter den Mitgliedsstaaten findet.»
«Wenn die P5-Mitglieder ein Veto einlegen, um ein frühzeitiges Eingreifen in Krisensituationen zu verhindern, verwandeln sie den Rat in einen globalen Unsicherheitsrat», sagte Tim Murithi vom Institute for Justice and Reconciliation in Kapstadt. «Dies gilt umso mehr, wenn sie selbst Partei in einem Konflikt sind. Wenn ein Veto in einer solchen Situation missbraucht wird, sollte sich die Generalversammlung mit der Angelegenheit befassen», fügte er hinzu.
Der argentinische Abgeordnete Fernando Iglesias merkte an, dass das Vetorecht im Sicherheitsrat «ein altes Phantom aus einer vergangenen Welt» sei. Nach Ansicht des Ko-Vorsitzenden des World Federalist Movement «sollte es abgeschafft werden und in der Zwischenzeit muss es begrenzt werden. Die Rolle, die die Generalversammlung dabei spielt, ist entscheidend für den Frieden in der Welt», sagte er.
«Zum jetzigen Zeitpunkt befürworten wir kein bestimmtes Modell für die Reform des Sicherheitsrates», sagte Andreas Bummel, Geschäftsführer von Demokratie ohne Grenzen. «Aber eines ist klar: Einzelnen Ländern ein Vetorecht einzuräumen, ist nicht mehr haltbar», stellte er fest. Mit Blick auf die Vetos im Sicherheitsrat, mit denen unter anderem Maßnahmen der UNO gegen die Massengräuel in Syrien blockiert wurden, hatte der Mitbegründer der Gruppe zuvor bereits eine entschlossene Anwendung des Prinzips «Uniting for Peace» gefordert.
In einem Artikel, der diese Woche bei IPS veröffentlicht wurde, erklärte der ehemalige ständige Vertreter von Bangladesch bei der UNO, Anwarul K. Chowdhury, dass das Vetorecht der P5 im Sicherheitsrat «der Hauptschuldige für das Scheitern eines einheitlichen globalen Vorgehens der UNO» sei. Seiner Meinung nach «ist das Vetorecht nicht der Eckpfeiler der Vereinten Nationen, sondern in Wirklichkeit ihr Grabstein.»
Dmitri Makarov, ein Menschenrechtsaktivist in Russland und Ko-Vorsitzender der Moskauer Helsinki-Gruppe, warf grundlegende Fragen auf: «Brauchen wir den Sicherheitsrat noch so, wie er geschaffen wurde? Oder brauchen wir etwas völlig anderes?»